Wirklichkeit – Illusion – Vision

Ein Gespräch mit dem Philosophen Malte Oppermann

Unser Realtime-Festival hat sich in diesem Jahr das Motto „Wirklichkeit – Illusion – Vision“ gewählt. Die Konzerte, Kompositionen, Aufführungskonzepte und Workshops nähern sich diesem Thema von Seiten der Musik. Doch wie können wir diese Inhalte weiterdenken?

In den letzten Jahren scheinen gerade künstliche Realitäten und Illusionen unsere Wahrnehmung entscheidend zu beeinflussen. Und Visionen schreiben sich alle Unternehmen, die modern erscheinen möchten, in ihre Agenda.

Wie aber grenzen sich die Aussagen, die diesen drei Wörtern möglicherweise zugrunde liegen, voneinander ab? Denn Schlagwörter beschäftigen zwar die Medien immer wieder, es wird sich aber mit ihnen eher oberflächlich auseinandergesetzt.

Für eine bessere Einordnung fragten wir den Philosophen Malte Oppermann, der auch zu unserem Festival anreisen wird.

Herr Oppermann, was halten Sie von unserem Motto?

Es ist ein vieldeutiges Motto. Jeder kann mit diesen drei Schlagworten seine ganz eigenen Assoziationen verbinden. Aber es scheint auch einen aktuellen Bezug zu haben. Im Zeitalter der Digitalisierung hat der Zweifel Konjunktur. Man fragt sich, ob man in einer Scheinwelt lebt. Man fängt an, misstrauisch zu werden. Wird diese oder jene Wirklichkeit mir nur vorgegaukelt? Bin ich umgeben von lauter Illusionen? Daran ist nicht nur das Internet Schuld. Ein bisschen liegt die Schuld dafür auch bei den Philosophen, die diese Zweifel besonders lautstark propagiert haben. Foucault zum Beispiel hat gesagt, wir sollten uns nicht einbilden, dass uns die Welt ein lesbares Antlitz zuwendet. Das finde ich ein bisschen übertrieben. Das würde ja heißen, dass uns die Welt im Grunde immer anlügt. Es gäbe gar keine Verlässlichkeit.
Also auch wenn der Zweifel Konjunktur hat: Ich finde wir haben in den meisten Fällen allen Grund, uns auf unsere Erfahrung zu verlassen. Meistens erkennen wir klar und deutlich, was wirklich ist. Das heißt nicht, dass man nicht anfällig für Illusionen ist. Aber am Ende zerbricht die Illusion an der Wirklichkeit. Wenn wir der Illusion so völlig ausgeliefert wären, dass die Welt uns eigentlich immer anlügt, dann sähe es düster aus. Dann wäre es übrigens auch nichts mit der Verwirklichung von Visionen. Dann könnten wir die Welt im Grunde gar nicht richtig gestalten.

Woher wissen wir, was Wirklichkeit ist?

Ich glaube, diese Frage muss man aufteilen. Was bedeutet es zunächst mal, etwas zu wissen? Wissen hieß für Platon eine gerechtfertigte, wahre Meinung von etwas zu haben. Wenn ich sehe, dass die Fensterscheiben voller Wassertropfen sind, und ich meine, dass es regnet, dann weiß ich das noch nicht sicher. Es könnte ja auch ein Wassersprenger sein. Aber gehe ich dann vor das Haus und stelle fest, dass überall ums Haus herum Wassertropfen vom Himmel fallen, dann habe ich Gewissheit. Wenn ich dann der Meinung bin: „Es regnet“, weiß ich: Der Regen ist wirklich.
Mit dem Wissen um die Wirklichkeit selbst ist es schwieriger. Es könnte ja sein, dass ich nur träume. Tatsächlich ist dieses Problem ein kaum lösbares. Wer wissen will, was sozusagen „wirklich“ wirklich ist, der philosophiert bereits.
Zum Glück gibt es aber auch eine unphilosophische Gewissheit der Wirklichkeit. Diese Gewissheit ist vielleicht kein Wissen. Dafür ist sie unmittelbar gegeben. Selbst wenn ich träume, ist ja zumindest der Traum real. Solange ich wahrnehme und empfinde, bleibe ich immer eingetaucht in eine ganze Fülle von Wirklichkeit. Erst, wenn ich anfange, diese Mannigfaltigkeit zu deuten, stellt sich die Frage, was davon mehr und was davon weniger wirklich ist.
Wir sind so tief in sie eingetaucht, dass wir nur allzu zu gut wissen, was Wirklichkeit ist. Erst, wenn wir anfangen, darüber nachzudenken, wird es auf einmal schwierig.

Gibt es eine objektive und eine subjektive Wirklichkeit?

Subjektive Wahrnehmungen und Empfindungen sind natürlich selbst ein Teil der Wirklichkeit. Die Frage ist, wie genau sie uns über die objektive Wirklichkeit Aufschluss geben. Wenn ich einen Baum vor mir sehe, und vor mir steht tatsächlich ein Baum, dann stehen die objektive und die subjektive Seite der Wirklichkeit in Übereinstimmung. In manchen Fällen, wie bei Halluzinationen, ist das nicht so leicht, aber Halluzinationen haben wir zum Glück ja nur sehr selten.

Gibt es einen Unterschied zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit?

Es ist eine alte Streitfrage, ob uns unsere Wahrnehmung die Welt wirklich so zeigt, wie sie ist. Kant hat behauptet, dass wir nicht wissen können, wie die Wirklichkeit an sich aussieht. Wir kennen sie nur so, wie unsere Wahrnehmung sie für uns strukturiert. Aristoteles war da anderer Meinung. Er meinte, dass die Formen, die unsere Wahrnehmung ins uns abbildet, die Formen der Dinge selbst seien. Das ist eine große offene Frage. Ich tendiere eher zur Meinung des Aristoteles. Aber da bin ich wahrscheinlich ein bisschen altmodisch.

Ist Wirklichkeit das Gleiche wie Realität?

Die Begriffe Wirklichkeit und Realität werden synonym verwendet, aber sie unterscheiden sich in ihren Anklängen. Realität ist ein Fremdwort. Es kommt von res. Das ist lateinisch für Sache oder Ding. Realität klingt für mich irgendwie nach Sachlichkeit oder Dinglichkeit. Das Wort Realität scheint gut zur Sphäre der Alltagsgegenstände zu passen; der Welt der Dinge, von denen wir umgeben sind, die sich in Regalen oder Warenhäusern stapeln. Wirklichkeit ist dagegen ein deutsches Wort. Wirklichkeit kommt von Wirken. Das klingt etwas weniger dinglich oder sachlich. Alles, was irgendwie wirkt, gehört zur Wirklichkeit.Das geht über das hinaus, was in ein Regal oder ein Warenmagazin passt. Oft stellen wir uns die Wirklichkeit ja als die Menge aller räumlichen Objekte vor, die es gibt. Aber das ist natürlich sehr ungenau. Es gibt ja auch eine ganze Menge von Wirklichkeiten, die keine Objekte sind. Gedanken zum Beispiel, oder Gefühle, aber auch Radiowellen oder Magnetismus. All diese Dinge haben ihre Wirkungen, obwohl man sie nicht anfassen kann. Und zwar sehr weitreichende Wirkungen zum Teil. Sogar ein bloßer Traum sind ja in mir wirksam und in dieser Wirksamkeit ist er ein Teil der Wirklichkeit.

Woran können wir eine Wahrheit erkennen und woran eine Illusion?

Um diese Frage zu beantworten, muss ich ein bisschen ausholen. Zunächst mal ist es hier wichtig, Wirklichkeit und Wahrheit zu unterscheiden. Wirklich oder „wirksam“ ist erstmal alles, was nicht nichts ist. Wahrheit ist dagegen eine Eigenschaft von bestimmten Aussagen und von anderen nicht.
Was sind wahre Aussagen? Da gibt es einmal wahre Aussagen, die sich von selbst verstehen. Man nennt sie analytische Wahrheiten. Zu diesen Wahrheiten gehören Sätze wie: „2+2=4“ oder „Junggesellen sind unverheiratete Männer“. Die Wahrheit dieser Aussagen steckt bereits in ihren Begriffen. Sie sind im Grunde Tautologien. Bei anderen Sätzen muss noch etwas dazukommen, damit sie als wahr gelten können. Der Satz „Es regnet“, ist nur wahr, wenn es tatsächlich regnet, und das kann ich nicht aus diesem Satz selbst erschließen, dafür muss ich vor die Tür gehen und nachsehen, ob es wirklich regnet.
Im Prinzip erkennen wir Wahrheiten also recht einfach. Einmal durch logisches Verstehen und einmal durch empirische Überprüfung. Auf diesen beiden Wegen lassen sich die meisten Illusionen entlarven. Illusionen sind ja nichts anderes als falsche Wahrnehmungen der Wirklichkeit. Etwa wenn ich einen Ast auf den ersten Blick für eine Schlange halte, oder wenn ein Bildschirm mir vorgaukelt, ich sähe ein galoppierendes Pferd, etwa im Westernfilm. Schwierig wird es, wenn unser Denk- und Wahrnehmungsvermögen z.B. durch Krankheit beeinträchtigt ist. Dann kann es passieren, dass wir die Fähigkeit, Wahrheiten zu erkennen, ein Stück weit verlieren. Darüber hinaus bleibt immer noch die Frage, ob nicht alles nur ein Traum ist. Aber diese Frage hat eigentlich keinerlei praktische Konsequenz. Auch wenn die Welt, so wie sie ist, nur geträumt wäre, dann würde das an der Welt, so wie sie ist, ja offenbar gar nichts ändern können. Das Wahre bliebe wahr und das Falsche bliebe falsch, auch wenn alles nur ein Traum wäre.

Brauchen wir Visionen?

Helmut Schmidt hat bekanntlich gesagt, wer Visionen hat, solle zum Arzt gehen. Für einen Politiker ist das bestimmt keine schlechte Haltung. Die Dinge ändern sich so schnell, dass die Verwirklichung der großen Vision gar nicht hinterherkommt. Viele große Visionen entpuppen sich auch als Illusionen im Sinne der Selbsttäuschung. Man glaubt an seine Vision, man bildet sich ein, etwas sei so, wie man es sich wünscht, und irgendwann wird man enttäuscht. Die Utopie zerbricht. Aber es gibt auch genug Visionen, die tatsächlich Wirklichkeit wurden. Oft waren es technische Träume, Luft- und Raumfahrt etwa. Hier und dort ist es sogar immer wieder gelungen, die Vision der Gerechtigkeit ein klein bisschen mehr Wirklichkeit werden zu lassen. Irgendwie müssen wir uns schon ausmalen, was wir von der Zukunft erwarten. Visionen müssen ja nicht immer etwas völlig Abgehobenes sein. Ohne Bilder von dem, was wir erwarten oder was wir erhoffen, also ohne Zukunftsvision, würden wir nur noch für den Genuss der Gegenwart leben. Wir müssen uns vorstellen, was kommen soll. Das hat erstmal gar nichts mit revolutionärer Science-Fiction zu tun. Es reichen kleine Dinge. Die Erfahrung lehrt, dass es so völlig anders als bisher auch in Zukunft nicht werden wird. Aber auch das Altbewährte muss ja immer wieder neu verwirklicht werden. Ein bisschen visionäre Weitsicht kann da nicht schaden.

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